Seraina Winzeler, Bereichsleiterin Dokumentationsstelle
Seit drei Jahren leitet Seraina Winzeler die deutschsprachige Dokumentationsstelle (abgekürzt: Dokstelle) der Cinémathèque suisse. Sie führt ein kleines Team, das ausschliesslich aus Frauen besteht, und koordiniert die Aktivitäten dieses Archivs, welches eine ungewöhnliche Geschichte aufweist. Nach seiner Entstehung im Jahr 1942 führten es ab 1992 die katholische und reformierte Kirche gemeinsam bis ins Jahr 2002, bevor es in die Cinémathèque suisse integriert wurde. Die katholische Kirche hatte früh realisiert, welch verbindende Wirkung und Bildungsfunktion der Film hat, und begann, Einfluss auf die Filmrezeption auf nationaler und internationaler Ebene auszuüben. In der Deutschschweiz lancierte sie 1941 die regelmässige Publikation von Der Filmberater, einer Zeitschrift mit moralisch gefärbten Filmkritiken. Diese wurde 1973 durch Zoom abgelöst, deren liberalere redaktionelle Ausrichtung sie bis 1999 zu einer der bedeutendsten Filmzeitschriften der Schweiz machte.
Mit der Fusion der Bestände der katholischen und reformierten Kirche im Jahr 1992 wuchs die Sammlung kontinuierlich an, sodass die Anstellung qualifizierter Archivarinnen längerfristig unumgänglich wurde. Die Tradition der Privatsammlung wurde allmählich durch einen patrimonialen Ansatz ersetzt, der den Schwerpunkt auf die Zugänglichkeit, die Dienstleistung für die Nutzerinnen und Nutzer und die Einführung von archivischen Normen legte. Seraina, die ein Nachdiplomstudium in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften (MAS ALIS) absolviert hat, stellt in ihrem Arbeitsalltag fest, wie stark sich heute die Arbeit von Gedächtnisinstitutionen verändert, insbesondere seit der fortschreitenden Digitalisierung. Die Liebhaberin von Dokumentarfilmen und Essayfilmen studierte an der Universität Zürich Filmwissenschaft, Germanistik und Geschichte und möchte der Dokstelle mehr Sichtbarkeit verleihen, indem sie mit ihrem Team stärker im Bereich der Vermittlung tätig ist und an einem Projekt zu Zürich und Film arbeitet
Der Zürcher Ableger der Cinémathèque umfasst heute 1,5 Millionen Dokumente in den Dokumentationsdossiers – die meisten in deutscher Sprache –, und um die 20 Archivbestände mit einem Schwerpunkt auf den neuen Schweizer Film. Neben den Papierarchiven von Richard Dindo, Peter Mettler, Gertrud Pinkus, Peter Liechti oder Alexander Seiler sind Bestände der katholischen und reformierten Kirche vorhanden sowie etwa Akten eines frühen Filmverleihs, der Monopol-Films A.G., aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Periode aus der zu Serainas Bedauern wenig Quellen überliefert sind. Um diese heterogene Auswahl bestmöglich zu verwalten, ist jede Mitarbeiterin der Dokstelle für eine spezifische Sammlung zuständig, was ihnen Autonomie verleiht und ihren Alltag abwechslungsreich gestaltet.
Unter den wertvollsten Dokumenten befindet sich laut Seraina ein Buch mit Unterschriften, das Charles Reinert gehörte, einem Jesuiten, der lange als Redaktor der Zeitschrift Der Filmberater arbeitete. Darin erkennt man nebst den Unterschriften von Kirchenvertretern auch eine Skizze von Jean Cocteau, die Handschrift von Alfred Hitchcock und einen Spruch von Hans Richter. Dieses in seiner Art einmalige Buch ist nicht nur von unschätzbarem Wert, sondern es steht exemplarisch für die atypische Vergangenheit der Dokstelle und die Kontakte, die die Kirche jahrzehntelang zum Film pflegte.
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